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„Kratzte mich blutig“: Virus zerstörte ihr Gehör, heute ist sie erfolgreiche Ohrenärztin

FOCUS online: Frau Wolter, mehr als eine Million Menschen in Deutschland sind hochgradig hörgeschädigt oder gehörlos. Sind Sie ihnen eine bessere Ärztin, weil Sie wissen, wie es ist, taub zu sein?

Veronika Wolter: Ich würde mich nie als bessere Ärztin bezeichnen, nur weil ich selbst ertaubt war und dank der Implantate, die ich täglich auch meinen Patienten einsetze, wieder hören kann. Was ich allerdings immer wieder als Rückmeldung bekomme, ist, dass die Patienten spüren, dass ich wirklich weiß, wovon ich spreche. Mir muss niemand erklären, wie einsam es macht, wenn man so schlecht hört, dass selbst Hörgeräte nicht mehr helfen. Das schafft eine besondere Vertrauensbasis. Oft setzt mich das aber auch unter Erfolgsdruck.

Inwiefern?

Ich bin Chefärztin einer HNO-Klinik, habe zwei Kinder und führe ein sehr erfülltes Leben. Dieses, vor allem auf meinem Gehör basierende, sehr gute Ergebnis lässt sich nicht bei jedem Patienten erreichen. Wenn der Hörnerv zu stark geschädigt ist oder die Hörschädigung bereits sehr lange besteht, ist es häufig schwierig. Manchmal muss ich die Erwartungen ein bisschen herunterschrauben.

Sie waren neun Jahre alt, als Sie Ihr Gehör fast vollständig verloren. Wie kam es dazu?

Es war Grippezeit. Ich hatte über 40 Grad Fieber, Nasenbluten, war so erschöpft, dass ich kaum die Augen aufhalten konnte. Außerdem wurde alles um mich herum auf einmal so leise. Nach jedem Gespräch mit meiner Mutter fragte ich: „Mama, was hast du gesagt?“ Es war, als würde mein Kopf in Watte liegen.

Ihr Hausarzt diagnostizierte eine Hirnhautentzündung.

Genau. Er meinte aber, sie sei nicht stark ausgeprägt und ich müsse nicht ins Krankenhaus. Ich bekam ein Antibiotikum und Bettruhe verordnet. Das Problem: Das Antibiotikum war zwar gegen Bakterien wirksam, aber nicht gegen Viren. Ich hatte jedoch eine virale Meningitis, wie sich später herausstellte. Nach drei Wochen war ich noch immer krank, aber wollte unbedingt wieder in die Schule.

Und dann?

Schon nach der ersten Stunde musste ich mich übergeben, mein Vater holte mich ab. Eine Woche später schleppte ich mich zum ersten Mal vom Bett aufs Sofa und wunderte mich, warum der Fernseher so leise war. Doch ich dachte, meine Ohren seien einfach noch „zu” von der Erkältung.

Bis Ihre Lehrerin irgendwann Alarm schlug.

Genau. Ich bin in einer Großfamilie auf dem Bauernhof aufgewachsen. Bei uns war immer viel Trubel. Dass ich ständig nachfragte, fiel erst mal niemandem auf. Tatsächlich kontaktierte meine Klassenlehrerin dann meine Eltern. Mir selbst war natürlich aufgefallen, dass ich sie kaum noch verstand. Sie klang plötzlich so weit entfernt. Ich verstand auch nicht, wieso ich mich auf einmal so anstrengen musste, um dem Unterricht zu folgen. Ich war bis dato Klassenbeste, hatte nur Einsen im Zeugnis. Dann hatte ich in einem Diktat plötzlich eine Drei. 

Also gingen Sie mit Ihrer Mutter in die Klinik – wo ein Oberarzt relativ unwirsch eine mittel- bis hochgradige Hörschädigung feststellte.

Ja, der Oberarzt sagte zu meiner Mutter, dass ich ein Hörgerät auf beiden Ohren bräuchte und empfahl, mich auf eine Schule für Hörgeschädigte zu schicken. Eine normale Schullaufbahn sei mit dem schlechten Gehör nicht möglich. Spätestens wenn Fremdsprachen dazukämen, würde ich scheitern. Meine Mutter versuchte mir zuliebe tapfer zu sein und die Härte, mit der uns der Arzt die Situation schilderte, abzumildern. Doch das änderte nichts an der Tatsache, dass wir mit einer Verordnung für Hörgeräte die Klinik verließen.

20 Jahre später bekamen Sie ein sogenanntes Cochlea-Implantat. Können Sie sich noch an den Moment erinnern, als Sie zum ersten Mal wieder hören konnten?

Das Erste, was ich hörte, war ein Klicken. So als würde ich einen alten Kassettenrekorder aus meiner Kindheit einschalten. Dann folgte lange Stille. In Wahrheit müssen es Bruchteile von Sekunden gewesen sein, doch es kam mir ewig vor. Dann hörte ich ein leises Rauschen, das ich erst nicht zuordnen konnte – bis mir klar wurde: Das war mein Atem. Die Sprache klang zu Beginn sehr fremd. Meine Therapeutin hörte sich an wie Mickey Maus. Aber ab diesem Moment verbesserte sich mein Gehör langsam und stetig. Auch der Klang wurde mit der Zeit und der richtigen Therapie immer natürlicher.

Es war also nicht so, dass Sie sofort nach dem Einsetzen wieder normal hören konnten?

Mitnichten. Es war ein langer Prozess zurück ins Leben. Als ich mich zum ersten Mal wieder selbst sprechen hörte, schoss mein Puls in die Höhe. Denn auch ich selbst klang zunächst fremd und anders. Ich hatte die Bilder aus der Klinik wieder vor mir. Ich erinnerte mich an all die Momente, in denen ich mir meine Ohren mit einem Kugelschreiber blutig kratzte, weil die Hörgeräte so sehr juckten, dass ich wahnsinnig wurde. An die Momente, in denen ich weinend in meinem Zimmer saß, allein und isoliert, weil ich nun mal anders war als die anderen und niemand den Menschen in mir sah, der ich war, sondern nur die, die nie etwas verstand.

Was empfinden Sie heute, wenn Sie an diesen Moment zurückdenken?

Immer noch eine gewisse Traurigkeit, weil mein Leben viel weniger qualvoll hätte verlaufen können, wenn ich als Kind rechtzeitig und vor allem richtig behandelt worden wäre. Dennoch überwiegt die Dankbarkeit. Ich bin jeden Morgen dankbar, wenn ich meine Implantate aktiviere. Ich knipse damit nicht nur meine Ohren an, sondern auch mein Gehirn und mein Ich, einfach mein ganzes Leben. Ich kann wieder so am Leben teilnehmen, wie ich mir das immer gewünscht habe. Es ist ein Gefühl, als würde ich endlich wieder dazugehören.

Ist das Gefühl, eben nicht mehr dazuzugehören, das Schlimmste am Verlust des Gehörs?

Immanuel Kant hat mal gesagt: „Nicht sehen trennt von den Dingen, aber nicht hören trennt von den Menschen." Das trifft es ziemlich genau. Das Schlimmste am Hörverlust ist, dass er die Verbindung zu anderen Menschen zerstört. Eine leichte Schwerhörigkeit kann man kompensieren. Doch wenn man fast taub ist, wird man auf grausame Weise vom Menschsein getrennt. Das verändert die Persönlichkeit. Viele meiner Patienten haben psychische Probleme, nicht wenige Selbstmordgedanken. Hören hat immense Auswirkungen auf das Leben. Wer nicht hören kann, wird sukzessive vom Leben ausgeschlossen.

Den meisten Hörenden ist das vermutlich zu wenig bewusst. Was ist der gravierendste Irrglaube, den hörende Menschen in Bezug auf Hörgeschädigte haben?

Dass Menschen, die nicht gut hören können, ein Intelligenzproblem haben. Im Englischen ist es besonders krass: deaf. Es bedeutet nicht nur taub, sondern implizit auch „blöd“. Dabei gibt es gehörlose Menschen, die Professoren sind. Die amerikanische Schriftstellerin Helen Keller war sogar taub und blind – und hat promoviert! Es gibt zwar es eine Korrelation zwischen Hörverlust und kognitiven Einschränkungen. Hochgradig Hörgeschädigte haben ein fünfmal höheres Demenz-Risiko. Aber es ist ein Irrglaube, dass hörende Menschen per se schlauer sind als Hörgeschädigte.

Was wünschen Sie sich von der Gesellschaft im Umgang mit Schwerhörigen und Gehörlosen?

Mehr Aufklärung. Jeder kennt Herzschrittmacher oder künstliche Kniegelenke. Doch kaum jemand weiß, was ein Cochlea-Implantat ist – obwohl sie fast 1,4 Millionen Menschen in Deutschland helfen könnten! Ab einem Alter von 65 profitiert fast jeder von einem Hörgerät, auch wenn es die wenigsten zugeben. Dafür möchte ich Bewusstsein schaffen.

Hintergrund: Was sind Cochlea-Implantate?

Cochlea-Implantate sind nur wenige Zentimeter groß, doch können sie für Betroffene alles verändern: Die kleinen Hightech-Prothesen übernehmen die Funktion des beschädigten Innenohrs, indem sie akustische Reize in elektrische Signale umwandeln und an das Gehirn weiterleiten. Die geschädigten Hörzellen werden dabei übersprungen. Dadurch können schwer hörgeschädigte Patientinnen und Patienten Sprache und Geräusche wieder wahrnehmen. Elementare Voraussetzung: ein intakter Hörnerv. Eingesetzt werden kann die Hörprothese sowohl bei Kindern als auch bei Erwachsenen.

Zur Person

Veronika Wolter leitet seit 2022 die HNO-Klinik und gründete die Helios Hörklinik Oberbayern am Helios Klinikum München West. Damit ist die gebürtige Marburgerin die erste gehörlose Chefärztin für Hals-Nasen-Ohren-Heilkunde (HNO) der Welt. Sie erkrankte im Alter von neun Jahren an einer Hirnhautentzündung, die zunächst zu einer mittel-, später dann zu einer hochgradigen und an Taubheit grenzenden Hörschädigung führte. Durch ein Cochlea-Implantat hat die Mutter von zwei Kindern ihr Hörvermögen zurückerlangt. Heute gehört Wolter zu den renommiertesten Expertinnen und Experten für künstliche Hörprothesen. Ihr Buch „Ich höre dich: Wie ich als ertaubte Ohrenärztin Hörgeschädigten und Gehörlosen wieder zum Hören verhelfe“ ist im Riva-Verlag erschienen.