
Wann werden wir alle älter als 100 Jahre? Nina Ruge hat darauf klare Antwort
FOCUS online: Sie beschäftigen sich schon lange mit dem Thema Longevity beziehungsweise nennen es auch Agile Aging. Was ist für Sie persönlich der Anreiz, älter als 100 Jahre alt zu werden?
Nina Ruge: Ich will gar nicht älter als 100 Jahre alt werden.
Tatsächlich?
Ruge: Ich wünsche mir, gesund 90 zu werden und dann ganz schnell zu sterben. Vielleicht wird eine nächste Generation 100 Jahre alt. Aber die Versprechungen, die von vermeintlichen Longevity-Experten in die Welt gesetzt werden, gerade über Social Media – nämlich, dass die Babys, die jetzt geboren werden, alle 100 werden: Das ist Unsinn.
Warum wird das nicht so sein?
Ruge: Wir müssen ein paar nüchterne Zahlen akzeptieren. Wenn wir es schaffen würden, sämtliche Krebserkrankungen weltweit zu vermeiden, dann würden wir insgesamt in der durchschnittlichen Lebenserwartung, die jetzt im Augenblick weltweit bei rund 73 liegt, dreieinhalb Jahre dazugewinnen. Dann wären wir bei 76,5.
Wenn wir es schaffen würden, sämtliche Herz-Kreislauf-Erkrankungen, die Todesursache Nummer eins, zu vermeiden, hätten wir noch mal ungefähr drei Jahre gewonnen. Dann wären wir bei einer Lebenserwartung von 80. Zusätzlich haben wir noch so viele andere Alterungsprozesse in unserem Körper, die chronische Alterskrankheiten einladen. Wir sollten den Menschen also keine falschen Hoffnungen ins Ohr setzen.
Das heißt, davon sind wir eher noch Jahrzehnte entfernt.
Ruge: Richtig. Denn es geht in der seriösen Longevity-Forschung darum, die gesunde Lebensspanne zu verlängern. Nicht Lebensspanne in Jahren und in Krankheit auszudehnen. Zugleich stellt sich die Frage, ob die Menschheit die Lebensspanne, die wir erreichen könnten, nicht ohnehin schon ziemlich weit ausgereizt hat.
Wo sehen Sie die begrenzenden Faktoren?
Ruge: Knapp über 120 Jahre ist das höchste Alter, das bisher dokumentiert worden ist. Wie sollen wir noch länger durchhalten? Diejenigen Zellen in unserem Körper, die sich nicht teilen, wie Nervenzellen, Immunzellen, Herzmuskelzellen, sind so alt wie wir. Erst wenn man auch diese Zellen verjüngen kann, könnte die Lebenserwartung deutlich steigen, vielleicht über 100 oder mehr. Und daran wird ja gearbeitet.
Von welchem Zeithorizont reden wir da, bis das Realität wird?
Ruge: Die epigenetische Reprogrammierung zum Beispiel ist gerade in der Entwicklung. Das wird kommen und könnte einen bedeutenden Sprung für das Lebensalter der Menschen ermöglichen. Aber im Augenblick ist damit nicht zu rechnen. Das wird noch einige Jahre an Forschung und Entwicklung bedeuten – und vor allem: aufwendige Zulassungsverfahren.
Nun gehört zum gesunden Altern, wie Sie es sich wünschen, auch die mentale Gesundheit. Was tun Sie für sich, um mental fit zu bleiben, damit Sie die 90 erreichen?
Ruge: Mentale Resilienz bedeutet für mich erst einmal eine sehr klare mentale Positionierung: Ich gehe in den Driver's Seat meines Lebens, nehme das Steuer in die Hand. Die Opferrolle ist nicht meine. Das bedeutet, ich akzeptiere Stress und schaue permanent nach Lösungen, um negative Stresssituationen zu begrenzen.
Auch positiver Stress, in den ich mich selbst durch leidenschaftliche Arbeit versetze, kann auf Dauer chronischen Stress verursachen. Das merke beispielsweise an meiner Schlafqualität. Dann verordne ich mir Regeneration.
FOCUS online traf Nina Ruge auf dem „BXX – Be women. Be healthy”?, wo alles unter dem Thema "Mentale Gesundheit" stand.
Die Initiatoren setzen gemeinsam mit Experten aus Arzt- und Apothekerschaft Impulse für eine neue Ära im Umgang mit Frauengesundheit. Mit einer reichweitenstarken und multimedialen Aufklärungsreihe in Kooperation mit über 7.000 Apotheken und einem exklusiven Event rücken sie frauenspezifische Gesundheitsbelange ins Rampenlicht.
„Mental Health“ - so essenziell und so unterschätzt - ist nach den „Wechseljahren“ das zweite, große Schwerpunktthema von „BXX be women, be healthy“, mit dem die Initiative für Frauengesundheit von BurdaVerlag und IhreApotheken.de weiter Fahrt aufgenommen hat.
Anmerkung: FOCUS online gehört wie der BurdaVerlag zu Hubert Burda Media.
Wie sieht die dann aus?
Ruge: Ich achte auf meinen Schlaf, auf meine Atmung, auf Auszeiten, auf kleine Regenerationsphasen, die mich in meine Kraft, in meine Ruhe bringen… von der ich weiß, dass sie in mir wohnt. Das spiegelt sich in dem Titel meines Lebenshilfe-Buches „Der unbesiegbare Sommer in uns“, inspiriert von Albert Camus: „Mitten im Winter entdeckte ich, dass in mir ein unbesiegbarer Sommer wohnt.“
Ein sehr schönes Bild.
Ruge: Wenn ich in einer Stressphase bin, also im Winter, verbinde ich mich mit der Kraft in mir, mit dem Sommer, der „unbesiegbar“ ist. Es ist die Kraft des Lebens, die mir Ruhe und die Stärke weitreichender Entscheidungen verleihen kann. Nicht ausschließlich auf Hilfe von außen warten. Selbst steuern, und sich dafür dann Unterstützung suchen.
Was können denn erste Schritte für jemanden sein, der den Sommer in sich noch nicht so erlebt hat?
Ruge: Finden Sie erst mal heraus, was die größten Stresstrigger sind. Worauf reagiere ich besonders genervt? Ist es das Umfeld? Sind es die Arbeitsbedingungen? Ist es eine toxische Beziehung? Oder bin ich es, die dem Gedanken aufgesessen ist, dass Stress grundsätzlich Mist ist? Stress ist nicht grundsätzlich schlecht. Stress gehört zum Leben dazu.
Es geht also darum, sich sorgsam in der Selbstbeobachtung zu schulen: Wie nehme ich Stress wahr, und wie reagiere ich? Anschließend heißt es sich zu fragen: Kann ich an den äußeren Bedingungen etwas verändern oder kann ich durch die Änderung meiner Wahrnehmung und durch innere Distanzierung in der Stresssituation etwas verändern? Grenzen setzen ist hier ein wichtiger Punkt. Ich kann zum Beispiel sagen: Jetzt ist Schluss, entschuldigt bitte, ich brauche jetzt mal fünf Minuten – und gehe auf die Toilette für eine Atemübung. Wenn wir uns krtischem Druck aktiv stellen, können wir uns eventuell aus der Opferrolle befreien, wertschätzen unsere Bedürfnisse und die der anderen und senken hoffentlich das Level der Stresshormone.
Sehen Sie, dass die Gen Z das besser macht als manch andere Generation? Denn manchmal wirft man ihnen das ein bisschen vor, sie würden zu viel auf sich selbst schauen.
Ruge: Ich liebe den Satz von Martin Buber: „Bei sich anfangen, aber nicht bei sich aufhören, bei sich beginnen, aber nicht sich selbst zum Ziel haben.“ Ich möchte nicht über die Gen Z pauschal urteilen, aber das Thema „Über sich selbst hinausschauen und in ein sinnhaftes Tun gehen, sich einen Sinn im Leben setzen, der weit über das Ich hinausgeht und den mit Leidenschaft verfolgen“, kann auch bedeuten, dass man da auch mal in Stress kommt und sich dann selbstkritisch fragen könnte: Versuche ich, jeglichen Stress zu vermeiden, weil ich dem Glauben aufsitze, ein geniales Leben sei ein Leben ohne Stress? Vielleicht hängt der eine oder die andere der Gen Z dieser Haltung an. Vielleicht kann positiver Stress aber auch hoch attraktiv sein – natürlich nicht auf Dauer, auf Jahre. Doch ich muss bei den Bundesjugendspielen nicht die Platzierung abschaffen und keinen ersten, zweiten, dritten Platz mehr vergeben, um den Kindern Stress zu nehmen.
Wir haben alle persönlich so manche Stellschrauben, die wir drehen können, um uns von Stress zu befreien. Stichwort Social-Media-Dauerkonsum abstellen.
Alles wird gut, das war zehn Jahre lang meine Verabschiedung im ZDF, in „Leute heute“. Heute habe ich vier Worte hinzugefügt: „Alles wird gut. Aber nicht von alleine“.