
"Habe aufgehört zu leben": Als Ärzte nicht weiterwissen, hilft sich Jana (29) selbst
Vor sechs Jahren sah Jana regelmäßig aus, als wäre sie im fünften Monat schwanger. Das zu sagen, maßt sich nicht die Autorin dieses Textes an. So beschreibt sich die heute 29-Jährige retrospektiv selbst. Schuld an der oft schmerzhaften Wölbung ihrer Körpermitte: das Reizdarm-Syndrom
Viele betroffen – wenig gesprochen
Unter der chronischen Darmerkrankung leiden laut der Leitlinien-Kommission der Deutschen Gesellschaft für Gastroenterologie weltweit schätzungsweise rund elf Prozent der Bevölkerung. Frauen sind deutlich häufiger betroffen als Männer. Die wenigsten von ihnen allerdings erzählen offen davon, was ein Reizdarm-Syndrom praktisch bedeutet.
Denn: Wer über das Reizdarm-Syndrom spricht, ist schnell bei Themen wie Verstopfung, Durchfall, Blähungen, Krämpfen. Dass das wenig sexy ist und nicht gerade das, worüber man sich mit Freunden oder Kolleginnen am liebsten unterhält, ist verständlich. Und dennoch ist es so wichtig, es trotzdem zu tun, findet Jana.
Diagnosen und noch mehr Diagnosen
Sie ist 23 Jahre alt und arbeitet als Polizistin, als sie zum ersten Mal Symptome bemerkt. Tagelang kämpft sie mit Verstopfung, kann oft über eine Woche nicht auf die Toilette gehen, hat schmerzhafte Krämpfe und Blähungen. „Was besonders unangenehm ist, wenn man mehrere Stunden mit einem Kollegen in einem Auto sitzt“, erinnert sich die junge Frau im Gespräch mit FOCUS online. Als sie deswegen zum Arzt geht, empfiehlt ihr der Mediziner mehr zu trinken und ein freiverkäufliches Medikament einzunehmen. Dann würde es schon besser werden.
Doch das wird es nicht. Jana geht erneut zum Arzt – und bekommt innerhalb eines Jahres ein halbes Dutzend verschiedener Diagnosen. Erst soll ein Eisenmangel hinter ihre Symptomen stecken, dann eine Schwäche der Nebenniere, eine Fruktoseintoleranz, hormonelle Störungen. Schließlich tippt ein Mediziner auf eine Funktionsstörung der Schilddrüse. Wirklich hilfreich ist keine der Diagnosen und der damit verbundenen Therapieversuche.
Kein Ende in Sicht
Also beginnt Jana auf eigene Faust zu recherchieren. Sie erzählt: „Ich habe online überall nach Leuten gesucht, der die Symptome so beschreiben, wie ich sie erlebt habe, doch nichts gefunden.“ Inzwischen bläht sich ihr Bauch nach quasi jeder Mahlzeit so sehr auf, dass sie nicht nur dauerhafte Schmerzen, sondern auch Ängste vor dem Essen entwickelt.
Eine Situation habe sich besonders negativ bei ihr eingebrannt, sagt sie. „Ich war bei einer Freundin zum Brunch eingeladen und freute mich total. Als wir aßen, blähte sich mein Bauch innerhalb kürzester Zeit jedoch so auf, dass ich nach Hause fahren und mich hinlegen musste, weil ich solche Schmerzen hatte. Ich legte mich auf die Couch und weinte einfach nur noch – in der Hoffnung, dass es irgendwann wieder besser würde.“
Solche Situationen erlebt Jana in dieser Zeit häufig. Sie zieht sich zurück, fährt ihr soziales Leben herunter, trinkt keinen Alkohol mehr, der die Verdauung zusätzlich herausfordert. Auch Sport streicht sie aus ihrem Leben, macht im Job nur noch das Nötigste. „Ich hatte ständig Schmerzen und habe aufgehört zu leben“, fasst sie zusammen.
Die Initiative übernehmen
Weil sie sich mit ihren Symptome nirgends auf Social Media wiederfindet, gründet Jana selbst einen Instagram-Account, auf dem sie zunächst anonym ihre Symptome teilt und sukzessive mit anderen Betroffenen in Austausch kommt. Durch Recherche, viel Ausprobieren und eine Fortbildung zur Ernährungs- und Gesundheitsberaterin findet sie nach Jahren erfolgloser Pseudo-Tipps endlich einen Weg, ihren chronisch kranken Darm nicht mehr zu überlasten – und ist heute symptomfrei, wie sie selbst sagt.
Was Jana geholfen hat
Geholfen habe ihr eine rein pflanzliche Ernährung mit viel Gemüse und Obst. Aus ihrer Sicht mindestens genauso wichtig wie die Umstellung ihrer Ernährung: ein gesunder Umgang mit Stress und negativen Gefühlen. Tatsächlich betonen auch Mediziner diese „Darm-Hirn-Achse“ in den vergangenen Jahren in Bezug auf Darmkrankheiten immer stärker. Dahinter stecke die Annahme, dass es einen Zusammenhang zwischen neurologischen Erkrankungen und immunologischen Veränderungen im Magen-Darm-Trakt gibt, erklärt das Uniklinikum Erlangen. „Dass also Darm und Gehirn miteinander kommunizieren – und dass sich Krankheiten beider Systeme gegenseitig beeinflussen oder sogar bedingen könnten.“ Gesteuert würden die Wechselwirkungen durch eine höchst komplexe Kommunikation diverser biologischer Signale.
Vorbilder schaffen
Genau das macht Jana inzwischen sogar hauptberuflich, sie hat eine Firma gegründet, die Menschen mit Reizdarm unterstützt. Und trotzdem erwische sie sich manchmal noch dabei, dass sie es als komisch und doch schambehaftet empfindet, öffentlich über Blähungen und plastische Details der menschlichen Verdauung zu sprechen. „Aber ich habe gelernt, damit umzugehen“, lacht die 29-Jährige, „und weiß aus eigener Erfahrung, wie wichtig es ist, dass es sichtbare Vorbilder gibt.“
Öffentlichkeit und Anerkennung
In der Theorie sei das durchaus verstanden, meint Jana. In der Praxis hätte sie auf diesen möglichen Zusammenhang jedoch kein Arzt aufmerksam gemacht. „Dabei gibt es keine Pille, die man nimmt und die Symptome sind weg“, kritisiert sie. „Vieles, was den Reizdarm betrifft, ist in deutschen Arztpraxen noch in den Kinderschuhen.“
Eine Universalformel, die für jede und jeden Betroffenen funktioniert und die diversen Symptome, die ein Reizdarm auslösen kann, auf Knopfdruck abstellt, habe auch sie freilich nicht gefunden. Darum allerdings gehe es ihr auch nicht, wie Jana betont. Vielmehr wolle sie für die Krankheit sensibilisieren, sie aus der Tabuzone holen, Optionen aufzeigen. „Oft hilft es schon, darüber zu sprechen und zu wissen, dass man nicht alleine ist. Das hätte ich mir damals jedenfalls sehr gewünscht.“