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Neue Arztregel geplant: Was Experten auf die größten Sorgen der Deutschen antworten

Union und SPD planen, das Primärarztsystem in Deutschland wiedereinzuführen. Demnach sollen Patienten mit Beschwerden immer zuerst ihren Hausarzt aufsuchen – und nicht direkt den Facharzt. Der Allgemeinmediziner entscheidet, ob eine Überweisung zum Spezialisten überhaupt nötig ist und welcher Facharzt in Frage kommt. 

Das Ziel dieses Prinzips: bessere Patientenversorgung, kürzere Wartezeiten und eine Entlastung des Personals in den Praxen.

Während einige Ärzte und Patienten das Vorhaben begrüßen, sind andere noch skeptisch. FOCUS online hat kritische Meinungen und Fragen von FOCUS-online-Lesern sowie Nutzern der Social-Media-Plattform X zusammengetragen. Vier Experten, nämlich

  • Oliver Spinedi, Pressesprecher des Spitzenverbandes Fachärztinnen und Fachärzte
  • Peter Nawroth, ehemaliger Direktor der Inneren Medizin I und Klinischen Chemie des Universitätsklinikums Heidelberg
  • Mimoun Azizi, Facharzt für Neurologie und Leiter des Zentrums für Geriatrie im Klinikverbund Südwest
  • und Markus Beier, Bundesvorsitzender des Hausärztinnen- und Hausärzteverbandes,

ordnen die Gedanken und Sorgen ein.

"Noch mehr Bürokratie und längere Wartezeiten"

"Das Primärarztsystem klingt auf dem Papier gut, aber in der Praxis? Noch mehr Bürokratie und längere Wartezeiten. Patienten werden die Leidtragenden sein."

Oliver Spinedi, Fachärzteverband: Heute sind die Wartezimmer vieler Facharztpraxen voll mit Patientinnen und Patienten, die aus medizinischer Sicht dort nicht hingehören. Das ist nicht nur eine Belastung für die Ärztinnen und Ärzte sondern ein Nachteil für diejenigen Patientinnen und Patienten, die dringend auf fachärztliche Versorgung angewiesen sind. 

Mit einem primärärztlichen System wird die medizinische Versorgung auf den tatsächlichen medizinischen Bedarf von Patientinnen und Patienten ausgerichtet. Die Patientinnen und Patienten sollen in diesem System also künftig dort ärztlich behandelt werden, wo es aus medizinischen Gründen für sie am zweckmäßigsten ist.

Markus Beier, Hausärzteverband: Ein gut umgesetztes Primärarztsystem kann vermeidbare Bürokratie und lange Wartezeiten für dringliche Fälle reduzieren sowie die Patientenversorgung verbessern.

Aus Ländern, in denen Primärarztsysteme erfolgreich gelebt werden, aber auch aus der Hausarztzentrierten Versorgung, über die bereits zehn Millionen Menschen in Deutschland ihre Versorgung steuern lassen, wissen wir: Unnötige Bürokratie und unkoordinierte Facharztarzttermine können durch hausärztliche Steuerung reduziert werden. 

Durch ein gut umgesetztes Primärarztsystem haben Facharztpraxen also mehr Kapazitäten, sich auf die medizinischen Fälle zu konzentrieren, die ihr Spezialwissen erfordern. Dadurch können dringliche Termine schneller erfolgen.

Auch der Gesundheitszustand der Patientinnen und Patienten profitiert durch ein Primärarztsystem: So zeigen Evaluationen der Hausarztzentrierten Versorgung aus zehn Jahren, dass die Qualität der Versorgung verbessert wird. Gerade auch eine enge und strukturierte Zusammenarbeit von Hausarztpraxen und Facharztpraxen in einem hausärztlich gesteuerten System zeigt positive Effekte.

  • Im Video: „Versorgungspolitischer Supergau“- Was die Regierung für Ihren Arztbesuch plant

"Patienten sollen selbst entscheiden, welchen Arzt sie aufsuchen"

"Ein verpflichtendes Primärarztsystem ist ein Rückschritt. Patienten sollten selbst entscheiden können, welchen Arzt sie aufsuchen."

Oliver Spinedi: Die freie Arztwahl ist ein wichtiges Gut. Nach unserer festen Überzeugung sollten auch in einem primärärztlichen System die Patientinnen und Patienten weiterhin frei entscheiden können, von welcher Ärztin bzw. welchem Arzt ihres Vertrauens sie sich behandeln lassen.

Peter Nawroth, ehem. Direktor der Inneren Medizin: Hausärzte, Kinderärzte, Augenärzte und Gynäkologen sind als Kandidaten für die Wahrnehmung der Primärversorgung eines Patienten vorgesehen. Ob sich diese Liste im Laufe der Verhandlung um die Ausgestaltung des Primärarztsystems noch ändert, muss abgewartet werden. 

Es wird auch diskutiert, ob chronisch Kranke sich gleich bei ihrem Spezialisten vorstellen dürfen. Ebenso könnten Ausnahmen für psychiatrische Erkranken gemacht werden. Ansonsten müssen Patienten sich bei einem als Primärarzt zugelassenem Arzt für eine Zeit einschreiben. Dieser Arzt, der idealerweise genaue Kenntnis über die Gesundheitsdaten des Patienten besitzt, soll dann über den nächsten Schritt für den Patienten entscheiden.

"Jetzt schon Schwierigkeiten, einen Hausarzttermin zu bekommen"

"Ich habe schon jetzt Schwierigkeiten, einen Hausarzttermin zu bekommen. Wie soll das mit einem verpflichtenden Primärarztsystem besser werden?"

Oliver Spinedi: Es ist klar, dass die Hausärztinnen und Hausärzte in einem primärärztlichen System nicht zum Flaschenhals für die medizinische Versorgung werden dürfen. Deshalb setzen wir uns dafür ein, dass in bestimmten, klar definierten Fällen, weiterhin ein direkter Zugang zur fachärztlichen Versorgung möglich ist. 

Das betrifft beispielsweise Menschen mit einer chronischen Erkrankung, die regelmäßig von der Fachärztin bzw. dem Facharzt ihres Vertrauens behandelt werden.

Markus Beier: Glücklicherweise sind die Fälle, in denen Patientinnen und Patienten Schwierigkeiten haben, einen Hausarzttermin zu bekommen, äußerst selten. Nach einer Befragung des GKV-Spitzenverbandes bekommt die Hälfte der Versicherten einen Hausarzttermin bereits nach einem Tag; nur vier Prozent gaben an, dass sie die Wartezeit auf einen Hausarzttermin als viel zu lang empfinden.

Ein Primärarztsystem kann auch in der Hausarztpraxis für Entlastung sorgen, weil Doppeluntersuchungen und unnötige Bürokratie, wie etwa das Hinterherrennen von Befunden, wegfallen. 

Klar ist aber auch: Es müssen gesetzliche Rahmenbedingungen geschaffen werden, um die Hausarztpraxen, aber auch die fachärztlichen Kolleginnen und Kollegen stärker zu entlasten. Bürokratieabbau, eine funktionierende Digitalisierung, aber auch die stärkere Übertragung von Aufgaben an unsere Praxisteams lassen sich schnell in die Praxen integrieren und würden für große Entlastung sorgen. Das hat auch unlängst eine Umfrage der Bertelsmann Stiftung bestätigt.

"Patientenwahlfreiheit erhalten"

"Ein verbindliches Primärarztsystem könnte die Versorgung effizienter gestalten. Wichtig ist jedoch, dass die Patientenwahlfreiheit erhalten bleibt."

Mimoun Azizi, Leiter eines Zentrums für Geriatrie: Der Vorteil besteht darin, dass der Hausarzt – basierend auf seine eigenen medizinischen Kenntnisse als auch auf die medizinische Vorgeschichte des Patienten – letztendlich bei der Wahl des Facharztes die richtige Entscheidung treffen kann und wird.

Damit wird der Patient zum richtigen Facharzt geschickt. Auf diese Art und Weise wird verhindert, dass Patienten, wenn sie auf eigene Faust den Facharzt aufsuchen, nicht die falsche Wahl treffen.

Zudem kann der Kreislauf zwischen Facharzt und Hausarzt so aufrechterhalten werden. Dieser Kreislauf führt dazu, dass beide beteiligten Ärzte sich besser austauschen können und die Diagnostik und Therapien besser koordinieren können. Dabei gehen keine Informationen verloren. Doppelte Untersuchungen können vermieden werden wie auch Fehler bei Medikamentenverschreibungen und Medikamenteneinnahme. 

Der Vorteil für den Patienten besteht darin, dass der Hausarzt danach über die Behandlung beim Facharzt über die Ergebnisse und Therapieoptionen informiert ist. Nach Rücksprache mit dem Facharzt ist es für den Patienten ggfs. sogar möglich, die Therapie auch selbst fortsetzen und entsprechend notwendige Folgetermine mit dem Facharzt koordinieren zu können. 

Der sekundäre Gewinn für alle wäre, dass die Wartezeit für einen Facharzttermin verkürzt werden könnte. Diese liegt momentan bei ca. sechs Monaten und ist bei bestimmten Erkrankungen nicht nur verantwortungslos, sondern für den Patienten sehr gefährlich.

"Extrem unpraktisch", "Beschwerden verschlimmern sich"

Ich bleibe dabei: aus meiner persönlichen (!) Erfahrung kann das 'Primärarztsystem' extrem unpraktisch und kontraproduktiv sein. Wenn ich starke Ohrenschmerzen habe, erstmal Termin beim Hausarzt finden, der aber durchs neue System noch mehr zu tun und weniger Termine hat.

Unter Umständen verliere ich so Zeit und die Beschwerden verschlimmern sich. Und nicht alle Hausärzte sind so gut auf bestimmte Beschwerden eingestellt –genau deshalb gibt es doch Fachärzte!"

Oliver Spinedi: Auch in Akutfällen muss ein niedrigschwelliger Zugang zu einer bedarfsgerechten, ärztlichen Versorgung gewährleistet sein, um zu verhindern, dass ansonsten Notaufnahmen und Krankenhausaufnahmen unnötig in Anspruch genommen werden. In diesen Fällen muss nach unserer Überzeugung nicht immer zunächst ein persönlicher Termin bei einer Hausärztin oder einem Hausarzt stehen. 

Beispielsweise könnte über die bundesweite Telefonnummer 116117 der Kassenärztlichen Vereinigungen bzw. deren App eine Vermittlung zur nächstmöglichen fachärztlichen Versorgung stattfinden.

Markus Beier: Nach aktuellen Berechnungen würde die Einführung eines verbindlichen Primärarztsystems in einer Hausarztpraxis etwa zwei bis fünf Patienten mehr pro Tag bedeuten. Wenn durch eine strukturiertere Versorgung anderes wegfällt, können die Hausarztpraxen das durchaus stemmen.

Aktuell ist die Erfahrung vieler Patientinnen und Patienten, dass Facharztpraxen neue Termine kaum mehr unterbekommen. Ein gut umgesetztes Primärarztsystem soll genau das ändern: Durch eine gezielte, hausärztliche Steuerung, nicht nur zur richtigen Facharztgruppe, sondern auch nach Dringlichkeit, sollen Patientinnen und Patienten, die akute Beschwerden haben und eine zeitnahe fachärztliche Behandlung benötigen, schneller einen Termin erhalten. 

Die Rechnung ist ganz einfach: Wenn weniger vermeidbare Fälle in Facharztpraxen landen, dann haben diese mehr Zeit für dringliche Behandlungen.

Wir sehen in der Hausarztzentrierten Versorgung, dass sich die Qualität der Versorgung durch eine hochwertige Patientensteuerung erhöht. Das bestätigen Evaluationen aus zehn Jahren. Die teilnehmenden Versicherten sind sehr zufrieden: So sehen neun von zehn HZV-Versicherten die koordinierte Betreuung durch ihre Hausarztpraxis als äußerst wichtig an.

Mimoun Azizi: Insgesamt hat das Primärarztsystem deutliche Vorteile. Allerdings müssen Hausärzte auch in der Lage sein, zu erkennen, wann eine Facharztuntersuchung erforderlich ist, damit dem Patienten keine Nachteile entstehen. Der Hausarzt sollte nicht den Facharztbesuch hinauszögern, obwohl dieser notwendig ist. 

Die Frage, die sich hier stellt, ist aber auch offensichtlich: Wer kontrolliert den Hausarzt? Was, wenn der Hausarzt den Patienten zu spät überweist? Es ist durchaus vorstellbar, dass dieser Gedanke dem Patienten Unbehagen bereitet.

Das jetzige System erlaubt es dem Patienten, selbst einen Termin beim Facharzt zu vereinbaren. Die Gefahr, dass für die jeweiligen Symptome der falsche Facharzt gewählt wird, ist dadurch jedoch erhöht. Das würde bedeuten, dass der Patient zum einen den Termin beim Facharzt blockiert hat, aber zum anderen auch, dass ihm nicht geholfen werden konnte. 

Peter Nawroth: In der Theorie ist es einfach: Bessere Steuerung durch einen Arzt, der den Patienten gut kennt, ergibt gezieltere Zuweisung, schnellere Termine bei Fachärzten, bessere Ergebnisse und eine Reduktion der explodierenden Kosten. 

Doch der Wurm steckt nicht nur im Detail (z.B. Wie finden mündige Patienten, die ihre Erkrankung gut kennen, am schnellsten und ohne Umweg den richtigen Arzt?). Es gibt zu viele übergeordnete Schwachstellen im deutschen Gesundheitssystem. Es wäre naiv zu glauben, dass das Drehen an einer Schraube die grundlegenden Probleme löst.